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Interview

Einen Unterschied machen

16. Mai 2024

Esmeralda bittet strahlend herein zum Interviewtermin im Tageszentrum Obdach Josi. Hier arbeitet sie als Peer mit obdachlosen Menschen. Was das bedeutet und wie sie zu ihrem Job kam, erzählt sie hier.

Esmeralda, Du bist mit 30 in eine ziemliche Krise geschlittert...

Ich dachte, ich hätte mein Leben im Griff, ich lebte in einer Beziehung und Wohnung, hatte meinen ersten Sohn und einen Job. Alles war geregelt. Aber von heute auf morgen fiel ich in eine tiefe Depression. Dem folgte ein Nervenzusammenbruch, ein langer Krankenstand geprägt von Behandlungen und Therapien. Mein Sohn stand an erster Stelle, er hatte immer zu essen, war gepflegt und pünktlich im Kindergarten, das war mir wichtig. Auch die Miete habe ich immer bezahlt, das war durch den irgendwann unabwendbaren Verlust meines Arbeitsplatzes natürlich schwer. Dennoch wurde der Druck irgendwann so groß, dass ich einen Suizidversuch begangen habe und danach stationär im Krankenhaus war. Ausgerechnet während dieser schwierigen Zeit setzte mich mein Vermieter stark unter Druck, weshalb mein Sohn und ich übergangsweise zu einer Freundin zogen.

Was passierte dann?

Ich schämte mich, in so eine Situation gekommen zu sein. Welcher Mutter passiert das schon, dass ihr Kind kein eigenes Zuhause hat? Das war sehr schlimm für mich. Aber bei einem Termin im Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe kam die Wende. Die Sozialarbeiterinnen, die mich berieten, waren toll: verständnisvoll und mitfühlend. Drei Wochen nach dem Termin konnte ich in eine von FSW Obdach betreute Wohnung ziehen, noch heute ist sie mein Zuhause. Die Wohnung ist mein ganzer Stolz und zeigt, was ich geschafft habe. Meine beiden Söhne haben ein Kinderzimmer, ich zum ersten Mal ein eigenes Schlafzimmer. Immer noch schließe ich gerne die Wohnungstüre auf, denn sie ist meine sichere Basis. Heute arbeite ich selbst für FSW Obdach, so schließt sich der Kreis.

Wie wurdest du zum Peer?

Eigentlich wollte ich schon immer im Sozialbereich arbeiten, aber ich dachte, man muss dafür studieren und ich wäre zu alt dafür. Dann hörte ich vom Zertifikatskurs Peers der Wohnungslosenhilfe, erkundigte und bewarb mich sofort. Das war meine Chance! Ich wurde angenommen, absolvierte die Ausbildung und seit drei Jahren arbeite ich nun als Peer im Obdach Josi.

Was bedeutet das, als Peer arbeiten?

Peers sind Menschen, die aus ihren eigenen Erfahrungen schöpfen und dadurch auf andere Weise Kontakt und Vertrauen zu obdach- oder wohnungslosen Menschen herstellen können als andere Berufsgruppen. In meinem Fall bedeutet das, Fürsprecherin zu sein, zuzuhören, mitzulachen oder auch mitzuweinen. Auch ich will einen Unterschied im Leben unserer Besucher:innen machen, so wie das auch jemand für mich getan hat. Ich kann ihnen das Verständnis entgegenbringen, das sie von anderen, die so eine Situation nicht erlebt haben, nicht bekommen. Das ist mein Zugang, mein Teil, den ich beitragen kann. Anfangs war das psychisch sehr belastend, die Abgrenzung zwischen Arbeits- und Freizeit musste ich erst meistern.

Was macht das Tageszentrum Obdach Josi aus und besonders?

Die Josi, wie wir sie nennen, ist für mich mein zweites Zuhause. Hier werde ich, genauso wie alle Mitarbeitenden und auch die obdachlosen Besucher:innen, angenommen, wie ich bin, vorurteilsfrei. Man spürt Verständnis und Herzlichkeit von allen Besucher:innen. Die Arbeit hier ist mein Traumjob, auf den ich mich wirklich jeden Tag freue.

Wer kommt ins Tageszentrum?

Die verschiedensten Menschen! Die meisten obdachlosen Männer hier haben ein gebrochenes Herz, weil sie jemanden verloren haben, zum Beispiel durch eine Scheidung. Sie haben eine Partnerschaft, ihr Zuhause und oft auch den Kontakt zu ihren Kindern verloren. Manche versuchen dem Schmerz dann mit Alkohol zu entfliehen. Und das setzt eine Teufelsspirale in Gang. Oft bin ich überrascht, wie offen und liebevoll viele trotzdem noch sind. Nach einer Nacht auf der Straße bei Minusgraden kommen sie morgens herein, gehen direkt auf mich zu, schütteln mir die Hand und fragen ehrlich interessiert, wie es mir geht. Sie sehen anscheinend, dass ich meinen Job wirklich von Herzen mache. Zu helfen ist ein Bestandteil meines Lebens. Und egal wie tief unten man ist, es ist viel möglich! Ein Besucher zum Beispiel war starker Alkoholiker und fast immer beeinträchtigt. Körperlich war er in einer extrem schlechten Verfassung und auf einmal kam er nicht mehr. Wir befürchteten, er wäre verstorben. Doch nach Monaten stattete er uns einen Besuch ab, sah blendend und gesund aus, trank nur mehr Saft. In der Zwischenzeit hatte er einen Platz in einem Chancenhaus bekommen und eine Entwöhnungskur gemacht. Er hat einen Weg gefunden und lebt jetzt ein neues Leben! Man darf die Hoffnung nicht aufgeben.

Begegnest du Vorurteilen, wenn du von deiner Arbeit erzählst?

Ja, wirklich oft! Dann führe ich hitzige Diskussionen mit Bekannten, weil sie meinen, Alkohol- und Drogenabhängige könnten eh nichts anderes als auf der Straße leben, oder sie gehörten weggesperrt. Aber wie kann man denn so etwas sagen, ohne die Geschichten dahinter zu kennen? Heute hast du ein Dach über dem Kopf, morgen vielleicht nicht. Du weißt nie, was im Leben auf dich zukommt. Das weiß ich aus eigener Erfahrung! Wenn du Hilfe bekommst und annimmst und mitarbeitest, kannst du aus verzwickten Lebenslagen aber auch wieder rauskommen. Betroffenen möchte ich sagen: Glaub‘ an dich und deine innere Stärke!

Welche Wünsche hast Du für die Zukunft? Wenn ich einem Menschen helfen kann durch mein Tun, bin ich zufrieden. Persönlich würde ich aufgrund der Teuerungen und den damit einhergehenden finanziellen Herausforderungen gerne noch einen oder mehrere Karriereschritte im Obdach Josi machen.