Karin Graf ist seit 10 Jahren Teamleiterin in einem ganz besonderen Haus, dem Obdach Leo. Dort finden Bewohner oft zum ersten Mal echte Gemeinschaft, Halt und Unterstützung. Manchmal ist es zudem auch das letzte Zuhause.
Eigentlich war Karin Graf Buchhalterin, doch den Tag nur mit Zahlen und ganz ohne Menschen zu verbringen, war ihr zu wenig. Sie beschloss umzuschulen und wurde Betreuerin bei Obdach Wien. Als 2009 die Stelle der Teamleitung im kleinsten Haus von Obdach Wien frei wurde, ergriff sie die Gelegenheit. Seither ist sie Hausherrin des Obdach Leo und kümmert sich jeden Tag um ehemals obdachlose Männer, statt um Zahlen. Denn im sozialbetreuten Wohnhaus ist Beziehungsarbeit ein großes Thema. Wer ins Obdach Leo zieht, soll sich wohl- und zuhause fühlen.
"Wir lassen sie einfach Mensch sein."
Im Obdach Leo wohnen 48 Männer und ihre Geschichten sind geprägt von der Zeit auf der Straße. Viele sind gesundheitlich angeschlagen, müssen erst lernen, zu wohnen und Vertrauen zu fassen. Wer jahrelang ohne Obdach, feste Strukturen und medizinische oder anderweitige Unterstützung gelebt hat, braucht Zeit sich einzuleben.
„Das Wichtigste ist, den Menschen Zeit zu geben und Vertrauen aufzubauen. Viele waren auf der Straße sehr vereinsamt. Da fällt es schwer, Hilfe anzunehmen", sagt Karin Graf.
Im Obdach Leo wartet ein ungewohntes Angebot auf die Männer: Jeder hat ein eigenes Zimmer, es gibt Gemeinschaftsküchen, eine Ärztin, die sich um körperliche und seelische Beschwerden kümmert und natürlich Unterstützungsangebote durch BetreuerInnen und SozialarbeiterInnen.
„Wir bauen durch viel Zuhören Vertrauen auf. Wir lassen die Männer, wie sie sind und holen sie dort ab, wo sie gerade sind. Ganz druckfrei. Wir lassen sie einfach Mensch sein“, fasst die Teamleiterin den Zugang zusammen.
Das Wohnzimmer als Herzstück
Das Obdach Leo ist ein kleines und familiäres Haus und es herrscht eine echte WG-Stimmung. Und wo Menschen miteinander leben, gibt es immer einen Lieblingsraum. Täglicher Treffpunkt für alle ist das große Wohnzimmer. Die Bewohner fühlen sich offensichtlich zuhause, denn einige wohnen seit der Eröffnung des Obdach Leo im Jahr 2006 dort. Karin Graf erinnert sich an einen ehemaligen Bewohner. Nachdem er sein Leben lang in Baracken wohnte, nie feste Arbeit und schließlich auch keine Familie mehr hatte, kam er mit Mitte fünfzig ins Obdach Leo. Anfangs war er von der neuen Umgebung und den Strukturen überfordert, seine gesundheitlichen Beschwerden groß. Nach und nach fasste er Vertrauen, nahm die Unterstützungsangebote an und wurde zum zentralen Teil der Gemeinschaft. Gleich in der Früh saß er im Wohnzimmer. Er wusste über das Geschehen im Haus Bescheid, schloss Freundschaften, war kulturinteressiert und aktiv. Oft sagte er: „Ich habe mein Zuhause gefunden.“ Ein Vorzeigebewohner, der bewiesen hat, was alles möglich ist und der auch seinen letzten Abend im Obdach Leo verbracht hat. "Mein Lieblingsplatz hier ist auch eindeutig das Wohnzimmer. Das habe ich wohl mit den Bewohnern gemeinsam. Hier spielt sich das meiste ab, wir kommen ins Reden, hier rennt der Schmäh. Das Wohnzimmer ist wirklich das Herzstück des Hauses,“ ist sich Karin Graf sicher.
Sonntagsfrühstück
Auch am Wochenende kommen hier alle zusammen. Jeden Sonntag wird zusammen groß gefrühstückt, wie bei vielen Menschen zuhause. Dann werden Eierspeise, ein Kuchen, Gebäck, Säfte und Kaffee gemeinsam im Wohnzimmer gegessen. Auch Geburtstage werden mit Kerzen und Torten gefeiert, beim ältesten Bewohner der fast 80 Jahre ist und beim jüngsten, der Mitte 30 ist. Die Leo-Bewohner sind füreinander eine Ersatzfamilie.
Für Karin Graf und ihr Team sind dies Momente, in denen die Sinnhaftigkeit des kleinen familiären Hauses wirklich spürbar wird. Wenn gemeinsam gelacht, gegessen und gefeiert wird. Wenn es einem Bewohner gesundheitlich besser geht oder er in der Gemeinschaft aufblüht. Dann wird klar worum es eigentlich geht. Nämlich um ein wohliges „i bin daham“.
Ausflüge in die Kindheit
Ganz besonders für alle im Obdach Leo sind auch gemeinsame Ausflüge und Traditionen. Jeden Monat wird eine Aktivität organisiert und die Bewohner sparen voll Vorfreude darauf hin. So kommt es, dass manche erwachsene Männer nach 30 Jahren wieder im Tiergarten stehen, freudig und neugierig von Gehege zu Gehege ziehen. Auch Weihnachten ist immer etwas Besonderes. Dann kommt es schon vor, dass die Männer mit Tränen in den Augen vorm Tannenbaum stehen und gerührt aus ihrer Kindheit erzählen.
Klingt, als wäre das Obdach Leo ein Ort, den Karin Graf einem Buchhalterbüro verständlicherweise vorzieht. „Für mich ist das der Beruf, der mich glücklich macht. Ich bin im Obdach Leo genau richtig. Es ist mein absoluter Traumjob. Für die nächsten 10 Jahre wünsche ich den Bewohnern, dass sie weiterhin so sein können, wie sie sind. Einfach Mensch sein können, im Obdach Leo ein Zuhause finden und sich wohl fühlen, denn oft ist es sowohl das erste, als auch das letzte Zuhause“, resümiert sie.
Das Obdach Leo ist ein sogenanntes Dauerwohnhaus für ehemals obdachlose Männer. Mindestens für fünf Jahre ziehen die Männer dort ein. Meist wird alle fünf Jahre verlängert. Ziel ist es, den Menschen, die nicht alleine leben können, ein gutes und adäquates Wohnen zu ermöglichen. Oftmals inkludiert das Essen auf Rädern, Heimhilfen und mehr. Der Unterschied zu PensionistInnenhäusern und Ähnlichem ist, dass ehemals obdachlose Menschen nicht darin geübt sind, selbstständig zu wohnen. Teilweise haben sie nie wirklich gewohnt. 24 Stunden am Tag ist einE Obdach Wien MitarbeiterIn im Haus und für die 48 Männer da. Hauptthemen der sozialen Arbeit sind die gesundheitliche und finanzielle Stabilisierung der Männer. Dafür wird täglich der persönliche Kontakt zwischen dem Team und den Bewohnern gesucht.
Mit den größten Herausforderungen der Straße wie „Wo finde ich einen geschützten Schlafplatz?“ und „Wie kann ich gesund werden?“ brauchen sich die Männer im Obdach Leo nicht beschäftigen.