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Blogbeitrag von Martin Stadtmann

Ein Schlüssel, ein Zimmer, ein Neuanfang

11. April 2025

Im Chancenhaus Obdach Wurlitzergasse finden Menschen, die ihr Zuhause verloren haben, weit mehr als nur ein Dach über dem Kopf. Sie erhalten einen Rückzugsort, Struktur, Unterstützung – und vor allem die Chance, ihr Leben neu zu ordnen und selbstbestimmt in die Zukunft zu blicken.

Das Chancenhaus Obdach Wurlitzergasse bietet sicheren Wohnraum und Unterstützung bei der Entwicklung von Perspektiven von wohnungs- und ehemals obdachlosen Erwachsenen.

Die Gründe, warum Menschen zu uns kommen sind äußerst unterschiedlich. Anlässe für den Einzug bei uns können etwa Delogierungen, prekäre Wohnverhältnisse, Gewalt in Beziehungen, oder unerwartete Unglücke – wie einen Wohnungsbrand – sein. Oder auch Menschen ohne Obdach, die direkt von der Straße weg zu uns kommen. Sie werden etwa von den Teams der Straßensozialarbeit Obdach unterwegs zu uns gebracht.

Es gibt keine Voranmeldung, keine Voraussetzungen und kaum Ausschlussgründe. Ist einer der 150 Wohnplätze frei, wird er vergeben – ganz ohne langwierige Verfahren. In wenigen Minuten sind die wichtigsten administrativen Fragen geklärt, die Unterlagen unterschrieben, und der Einzug kann stattfinden. Direkt von der Straße weg.

Der Schlüssel, den unsere neuen Bewohner:innen in die Hand bekommen, ist mehr als nur ein Zugang zu einem Raum – er steht für ein Stück Sicherheit und einen Neubeginn. Paare erhalten ein gemeinsames Zimmer, Einzelpersonen ein Einzelzimmer. Als einziges Wiener Chancenhaus setzen wir konsequent auf Einzelunterbringung. Wir sind stolz darauf, weil diese Art dies einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung unserer Bewohner:innen leistet. Stellen Sie sich vor, Sie stehen auf der Straße, mit dem was sie anhaben. Menschen, die zu uns kommen, sind meist so überwältigt von ihrer Situation, dass sie kaum Rücksicht auf Zimmerkolleg:innen nehmen können. Sie brauchen Raum.

Der Weg beginnt

Am nächsten Tag beginnt die Suche nach Perspektiven. Ein geregelter Tagesablauf hilft den Bewohner:innen, den Boden unter den Füßen wiederzufinden. Wir 24 Betreuer:innen begleiten sie dabei, bieten Struktur und Unterstützung. Tägliche Morgenbesprechungen, Zimmerbegehungen und Nachmittagsbesprechungen gehören genauso dazu wie die Organisation von Angeboten (Medizinische Versorgung, psychologische Beratung vor Ort – z. B. durch das neunerhaus-Ärzt:innenteam, FEM und MEN, Psychosoziale Dienste) und Aktionen. Dazwischen sind wir einfach da, für Fragen und Anliegen – sei es, um Kleidung aus dem Spendenlager zu holen, bei Problemen oder Konflikten zu vermitteln oder einfach bei einem Kaffee zuzuhören.

Dabei geht es nicht um Kontrolle, sondern um Unterstützung. Wir fragen nach: Was ist das Ziel? Was ist mit der Sozialarbeit besprochen worden? Welche Termine stehen an? Aber nur, um herauszufinden: Wie können wir auf diesem Weg unterstützen? Denn viele trauen sich nicht, um Hilfe zu bitten, weil sie wiederholt negative Erfahrungen gemacht haben. Oft haben unsere Bewohner:innen durch ihre Erlebnisse das Vertrauen verloren - in sich und in andere. Ihnen fehlt der Mut und sie haben Angst vor weiterer Ablehnung, Zurückweisung oder Stigmatisierung. Auch deswegen ist es wichtig immer da zu sein, also tatsächlich 24 Stunden am Tag.

Im richtigen Moment

Eine Geschichte ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Sie zeigt, wie wichtig es ist, den richtigen Moment abzupassen: Eine junge Frau, etwa 30 Jahre alt, hatte schwere gesundheitliche Probleme, weigerte sich jedoch, die Rettung zu rufen. „Solange ich selbst ins Krankenhaus fahren kann, ist alles in Ordnung. Ich will niemandem zur Last fallen“, sagte sie immer wieder. Schließlich ließ sie sich doch zur Behandlung bringen – im Krankenhaus stellte sich heraus, dass es bereits um Leben und Tod ging. Heute macht sie eine Therapie, wartet auf einen eigenen Wohnplatz und hat wieder Hoffnung.

Und: Es ist nie zu spät, eine Chance zu ergreifen. Ein Beispiel dafür ist Herr B, der mich persönlich inspiriert hat. Nach Jahren der Obdachlosigkeit bekam er bei uns einen Rückzugsort für sich. Weg vom schweren Leben auf der Straße, das oft Suchterkrankungen zur Folge hat oder verstärkt. Mit 60 Jahren hat er es geschafft, seine langjährige Sucht zu kontrollieren und einen Job zu finden. Seit einem Jahr arbeitet er und spart fleißig für eine eigene Wohnung – ein Ziel, das er bald erreichen wird. Es ist ein Privileg, ihn auf diesem Weg begleiten zu dürfen.

Vielfalt als Schlüssel

Der Verlust der eigenen Wohnung kann jeden treffen. Aber nicht jeder Mensch benötigt die gleiche Art von Hilfe. Deshalb ist unser Team so vielfältig wie die Menschen, die zu uns kommen. Im Chancenhaus arbeiten über 50 Kolleg:innen – Sozialarbeiter:innen, Betreuer:innen, zwei Teamleitungen, Haustechniker:innen, Assistent:innen und Reinigungskräfte, Zivildienende und junge Menschen im Freiwilligen Sozialen Jahr bei FSW Obdach. Auch Peer-Mitarbeiter:innen, die ihre eigenen Erfahrungen mit Wohnungsverlust einbringen, leisten einen wichtigen Beitrag. Im Team greifen unterschiedlichen Perspektiven und Kompetenzen ineinander. So finden wir gemeinsam die richtigen Worte und Lösungen zur richtigen Zeit.

Über Martin Stadtmann

Seit 2022 ist Martin Stadtmann als Betreuer im Chancenhaus Obdach Wurlitzergasse tätig. Seit dem ersten Tag weiß er, dass er hier genau richtig ist. Die Geschichten und die Kraft der Menschen, die einen Neustart schaffen, motivieren ihn jeden Tag aufs Neue.